Den richtigen Zeitpunkt versäumt? Überlinger Waldrappe sitzen immer noch in ihrem Brutgebiet
Newsletter 20.11.2021
In den drei Brutgebieten Burghausen, Kuchl und Rosegg ist die Herbstmigration gut verlaufen und weitgehend abgeschlossen. Und zudem ist erstmals eine große Gruppe von insgesamt 22 Vögeln gemeinsam aus Salzburg in die Toskana migriert. Anders ist es hingegen bei den 31 Vögel der Überlinger Kolonie, die immer noch vollzählig in ihrem Brutgebiet sitzen. Es gab vor Kurzem einen Abflug von insgesamt 6 Vögeln. Doch bei Chur in der Schweiz stoppte der Flug und die Vögel kehrten schließlich wieder nach Überlingen zurück.
2014 waren wir erstmals mit einem stark verzögertem bzw. verfehltem Abflug der Waldrappe aus der Salzburger Kolonie konfrontiert. Die Vögel hielten sich Anfang Dezember immer noch im Land Salzburg auf. Wir gingen damals davon aus, dass sie noch abfliegen, denn das war in der Vergangenheit auch der Fall. Aber ein plötzlicher Wintereinbruch gefährdete die ganze Gruppe und trotz sofortiger Fangaktion erfroren einige Vögel.
In den folgenden Jahren hat sich gezeigt, dass das Timing der Vögel im Herbst immer variabler wird. Manchmal finden schon Anfang Oktober die ersten Abflüge nach Süden statt, manchmal erst im November. Offenbar wird der Abflug stark durch äußere Bedingungen bestimmt.
Immer wieder ist beim Abflug das faszinierende Phänomen der Synchronisierung von Gruppen an verschiedenen Orten zu beobachten. Auch in diesem Jahr war das der Fall, mit Ausnahme der Überlinger Vögel. Während die Waldrappe anderer Kolonien bei schönem Flugwetter synchron losmigrierten, blieben sie vor Ort.
Es mag eine Rolle gespielt haben, dass die Vögel in Überlingen durch häufigen Bodennebel am Boden gehalten wurden. Da das Timing der Waldrappe im Herbst aber generell immer variabler wird, gehen wir von wesentlich basaleren Ursachen aus, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Klimawandel stehen. Dass in diesem Jahr nur die Überlinger Kolonie betroffen war mag mit der Gruppenzusammensetzung zu tun haben. Diese Gruppe besteht durchwegs aus jungen Vögeln mit geringer Zugerfahrung.
Das alles ist Großteiles Spekulation, auf der Basis langjähriger Erfahrung. Es fehlten uns bislang die nötigen Daten, um diese komplexen Zusammenhänge wissenschaftlich zu untersuchen. Das ist eine Zielsetzung der nächsten Jahre. Aber immerhin ermöglichen uns die bisherigen Erfahrungen ein effizientes Management in diesen Situationen. Gemäß den Wetterprognosen sind die Vögel noch nicht akut von einem Wintereinbruch bedroht und wir können noch abwarten. Vielleicht kommen ja noch günstige Bedingungen für die Migration. Aber spätestens Anfang Dezember müssen wir die Vögel fangen, um sie entlang der Zugroute in Südtirol freizulassen. Dort sind sie aus der Gefahrenzone und können weiter in das Wintergebiet migrieren. Und das tun sie nach unseren Erfahrungen auch. Wir wissen auch, dass diese Vögel mit guter Wahrscheinlichkeit im folgenden Jahr eine ganz reguläre Migration zeigen.
Die aktuelle Situation der Überlinger Waldrappe ist natürlich weder erwartet noch erfreulich. Aber der Fortbestand dieser Kolonie wird dadurch nicht gefährdet. Und gerade solche Anomalien bieten oft die Chance, ein tieferes Verständnis komplexer Zusammenhänger zu erlangen. Und fundiertes Wissen über den Einfluss des Klimawandels auf das komplexe Phänomen der Migration ist nicht nur für die Wiederansiedlung der Waldrappe von Bedeutung. Immer mehr Zugvogelarten zeigen ähnliche Anomalien (in der deutschen Fassung hier) und es davon auszugehend, dass sich diese Phänomene in Zukunft häufen.
Foto: Die Überlinger Waldrappgruppe im Flug. Hoffentlich werden wir sie bald wieder so erleben. (Foto: Waldrappteam)